Rede zur Ausstellungseröffnung in Saalfeld am 24. April 2015 von Dr. Cornelie Becker-Lamers

Sehr geehrte Frau Dr. Barthels, lieber Wolfgang Nickel, sehr geehrte Damen und Herren,

wir befinden uns hier im Innern eines Gesamtkunstwerks. Vermutlich wird keine Kunst sich je wieder so gut  in diese Räumlichkeiten einfügen wie die Glasarbeiten von Wolfgang Nickel. Denn diese Arbeiten sind im Hinblick auf diese Ausstellung tatsächlich für diese Räume hier geschaffen, auch farblich nach etlichen Besuchen hier auf die Flure und Behandlungsräume abgestimmt und in ständiger Rückkopplung mit der kunstsinnigen Veranstalterin, Frau Dr. Barthels, entstanden. Warum haben wir das Gefühl, daß die Glasarbeiten sich hier so gut einfügen? Weil die Gesamtanlage der Räumlichkeiten die Transparenz des Glases atmet. Die Beschriftung der Zimmer erfolgt durch Glasplättchen, die mit Abstandshaltern von der Wand - also in der dritten Dimension (darüber werden wir heute noch öfter reden) - durch Schablonenschrift Auskunft geben über die Raumnutzung. Die Stühle sind aus transparentem Kunststoff. Der ganze lichtdurchflutete Flur verdankt sich den Glastüren, die mit einem hellen graphischen Muster beschichtet sind. Und nun kommt der Clou: Auch die Türen stammen von Wolfgang Nickel. Sie erleben zur Zeit in diesen Räumen also in einer Klarheit, die man selten findet, den fließenden Übergang vom Kunsthandwerk oder Design zur freien Kunst. Die angewandte Kunst entwirft harmonische Formen und setzt sie zu seriellen, wiederholbaren Mustern zusammen, wie wir das eben hier bei diesen Türen sehen - das wäre der kunsthandwerkliche Aspekt. Die freie Kunst verschafft einem geistigen Impuls einen einmaligen, unwiederholbaren Ausdruck, wie ihn die Glasarbeiten zeigen. Und auch diese sind schon Teil der hiesigen Innenarchitektur: Die fünf Werke im Hausflur zum Gedicht "Blaue Hortensie" von Rainer Maria Rilke sind für diese Nutzung angefertigt und von der Praxis bereits angekauft worden.














Damit komme ich zum Thema meiner Rede im engeren Sinne, der "Poesie in Glas" von Wolfgang Nickel. Daß der Auftrag für die Gestaltung der Türen an Wolfgang Nickel erging, verrät bereits, daß der Kontakt zwischen der Praxis Barthels und dem Künstler schon über längere Zeit hindurch besteht und gepflegt wird. Vor fünf Jahren bereits, damals noch in anderen Räumlichkeiten, stellte Wolfgang Nickel in dieser Praxis aus. Es waren ebenfalls Glasarbeiten, jedoch zumeist ungegenständliche, ornamentale Arbeiten und farbige Mosaike. Der explizite Wunsch von Frau Dr. Barthels, den sie für die jetzige, zweite Ausstellung an den Künstler herantrug, bezog sich auf die Verarbeitung von Schrift und Texten in den Glasarbeiten. Sie hatte Nickels Werke kennengelernt, die jetzt im Wartezimmer hängen: Werke, die eine Mehrdimensionalität aus ihrer Anlage als abstraktes Gemälde oder Relief in Mischtechnik und einer vorangestellten, beschrifteten Glasscheibe hervorbringen. Der Wunsch von Frau Dr. Barthels bezog sich auf die Einbeziehung von Gedichten - insbesondere Rilke - in die Werke - und sie stieß mit dieser Anregung bei Wolfgang Nickel auf mehr als offene Ohren. Denn ebenfalls seit Jahren trieb diesen der Wunsch um, einer Vertonung von Rilke-Gedichten, die er einmal gehört und die ihn sehr beeindruckt hatte, eine bildliche Umsetzung dieser Gedichte an die Seite zu stellen.

So war die Idee geboren, eine Reihe von Glasarbeiten anzustoßen, in denen die Umsetzung von Gedichttexten im Vordergrund stehen sollte. Innerhalb des eigenen Schaffens hatte Wolfgang Nickel dabei zweierlei Anknüpfungspunkte: die Arbeit mit dem Werkstoff Glas, mit dem er seit rund zwanzig Jahren am eigenen Brennofen experimentiert, und seine Graphiken zu den Sagen von Ludwig Bechstein, mit denen er in den 90er Jahren Texte in Bildende Kunst umgesetzt hatte, und zwar in Bildende Kunst, die mehr sein sollte als eine bloße Illustration der Erzählung. Der künstlerische Anspruch ging schon damals dahin, Aussagebereiche zu verweben, sprachliche Inhalte also nicht nur figürlich abzubilden, sondern auch die Oberflächen der Graphiken sprechen zu lassen, Inhalte wirklich spürbar werden zu lassen. Der Anspruch war also schon damals eine Durchdringung von Text und Textur, von Stoff- und Inhaltsebenen zu erreichen, die die klassische Graphik nicht vorsieht.

















Diesen Anspruch hat Wolfgang Nickel in seine Glasarbeiten mit hinübergenommen. Nach den ersten Werken empfand er die Gefahr bei der Arbeit mit unbehandeltem Flachglas (einer Glasscheibe), daß die dritte Dimension im Kunstwerk nicht ausreichend zum Tragen kommen könnte. Die künstlerischen Experimente mit Glas, die dieser Erkenntnis folgten und bis heute folgen, beziehen sich daher u.a. auf die Oberflächenbehandlung oder Oberflächenmanipulation des Glases, die nicht nur eine Mehrdimensionalität des einzelnen Kunstwerks hervorbringt, sondern die Illusion einer noch tieferen Mehrdimensionalität schafft, als ein wenige Zentimeter tiefes Werk sie tatsächlich realisieren kann.

Hierzu dient nicht zuletzt die Einbeziehung des Lichtes in die Wirkung der Kunstwerke. Wolfgang Nickel hat etliche Kirchen und Kapellen mit Glasfenstern versehen und ist mit der Wirkung des Lichteinfalls durch farbiges Glas in den Raum bestens vertraut. Wie aber fängt man das Licht ein, wenn eine Glasarbeit für die Hängung an der Wand geschaffen wurde und kein Licht von hinten das Glas durchleuchten kann? Eine naheliegende Möglichkeit ist die technische Aufrüstung, also das Hinterfüttern des Werkes mit LED-Leuchten, die den ganzen Tag brennen und das Kunstwerk inszenieren. Also eine Art Baumarkt-Variante. Für diese Möglichkeit hat sich Wolfgang Nickel natürlich nicht entschieden und das braucht er auch nicht, denn er kennt den Werkstoff genauer. Wir alle wissen: Am Tag ist eine Scheibe durchsichtig, in der Nacht reflektiert sie. Die Spiegelfunktion, die auch einfaches Glas besitzt, wenn es nicht hinterleuchtet ist, das Licht also nicht durch sich hindurchlassen kann, macht Wolfgang Nickel sich in seinen Kunstwerken zunutze. Und da er die Glasoberflächen mehr und mehr bearbeitet und verfremdet, entsteht kein flacher Spiegel für uns, sondern ein Spiel der Reflexionen, die das Licht je nach Krümmung der Werkoberfläche in 1000 Richtungen wirft und die Farbe und das Aussehen des Gegenstandes je nach Lichteinfall komplett verändert.

Am frappierendsten begegnet uns dies in dem einzigen Werk der Ausstellung, das aufgrund seines unregelmäßigen Randes nicht in einem Rahmen hängt (das strebt Wolfgang Nickel eigentlich für alle seine Glasarbeiten an, aber der Werkstoff ist einfach zu empfindlich, zu schnell ist eine Ecke abgeschlagen, das Werk ist beschädigt und es entsteht Verletzungsgefahr, daher hat er sich doch mehr oder weniger schweren Herzens durchgängig für die Variante mit den silbernen Wechselrahmen entschieden). Am frappierendsten also die Veränderung, das Licht- und Farbenspiel bei Betrachtung der Zeit II im Behandlungsraum. Hier macht sich Wolfgang Nickel ein weiteres Geschenk der Natur zunutze: Unter der Glasoberfläche der Arbeit ruht echtes, strahlendes Blattgold.






Wie sieht es sonst mit den künstlerischen Techniken der Glasarbeiten aus? Die Oberflächengestaltung der Werke geschieht zunächst durch Ton, der wiederum in Schamotte abgeformt wird. In diese Form kommt das zu brennende Glas. Die Ornamente und Figuren entstehen dann tatsächlich durch eine Form von Malerei. Sie sehen im Liebes-Lied zu Rilkes gleichnamigem Gedicht zwei sehr fein gezeichnete Portraits oder Halbfiguren mit ausgesprochen individuellen Zügen. Wolfgang Nickel malt und zeichnet auf seine vorbereiteten Glaskörper mit Farbpulver aus zerstoßenem Glas. Die farblich verschiedenen Flächen werden in mehreren Brennvorgängen verschmolzen, da jede Farbe sich beim Brennen anders verhält. Wie bei Tonlasuren, so gilt auch für Glas, daß sich im Brennvorgang die Farbe verändert. Viele experimentelle Schritte sind also nötig, bis ein Werk in Angriff genommen werden kann.

Gehen wir nun anhand einiger ausgewählter Werke auf die Durchdringung von figürlicher Gestalt und sprachlichem Inhalt ein. Ich hatte ja erwähnt, daß dies ein wesentlicher Anspruch ist, den Wolfgang Nickel an die eigene Kunst stellt. Nehmen wir die Betrachtung der Zeit nach dem gleichnamigen Gedicht von Andreas Gryphius: "Mein sind die Jahre nicht,/ Die mir die Zeit genommen;/ Mein sind die Jahre nicht,/ Die etwa möchten kommen;/ Der Augenblick ist mein,/ Und nehm ich den in acht/ So ist der mein,/ Der Jahr und Ewigkeit gemacht", heißt es da. Der Jurist und Dichter Andreas Grypius lebte von 1616 bis 1664, und schon an den Lebensdaten erkennen wir, was sein Leben vor allem prägte: Die Glaubenskriege, der Dreißigjährige Krieg (1618-48) und die politischen Machtansprüche, die mit den verschiedenen konfessionellen Zugehörigkeiten einhergingen. Die einfache Bevölkerung war vom Ringen um den rechten Glauben durchdrungen und das Motiv der Vanitas, der Vergeblichkeit alles menschlichen Tuns, war ein feststehender Topos in der Barockliteratur und der damaligen Bildenden Kunst. Das Bewußtsein der eigenen Vergänglichkeit, die Angst vor dem Tod und die Perspektive auf das Jenseits bestimmten das Seelenleben der Menschen. Ein allenthalben dargestelltes und für jeden verständliches Symbol dieser Vergänglichkeit war das Gerippe mit der Sanduhr: Die gläserne Sanduhr, vom Tod dem Menschen höhnisch vorgehalten, die gläserne Sanduhr, die jederzeit den Blick auf den unbarmherzig rieselnden Sand als Bild der vergehenden Lebenszeit zuließ.

Wie hat Wolfgang Nickel dieses Bildmotiv adaptiert und verändert? Seine Glasarbeit Betrachtung der Zeit unterlegt den Gedichttext mit einem Gebilde, das mich auf den ersten Blick an eine Stoppuhr erinnert hat, wie sie in meinen Kindertagen üblich war. Aber es ist das Uhrwerk einer alten mechanischen Schweizer Uhr, nur daß die Krone nicht nach rechts, sondern nach oben zeigt und so die Assoziation einer Stoppuhr zuläßt. Durch die Gehäuseabdeckung ist das Uhrwerk zu etwa einem Drittel verdeckt, zu etwa zwei Dritteln ist es bloßgelegt. Wie den riesenden Sand in der Sanduhr, so sieht man hier förmlich die Unruh wippen und die ineinandergreifenden Räder des Uhrwerks Zahn um Zahn weiterschieben. Diese Zähne der Zeit aber legt Wolfgang Nickel eben nicht auf der ganzen Fläche offen. Ein Teil des Uhrwerks bleibt verborgen: Das Vergehen der Zeit also bleibt rätselhaft, da subjektive und objektive Zeitdauer doch häufig so stark differieren.

Am stärksten finde ich, daß Wolfgang Nickel nicht einfach eine Uhr erkennbar macht, sondern die Assoziation zu einer Stoppuhr nahelegt. Im barocken Symbol der Sanduhr ist der Lauf der Dinge zwar unbarmherzig vorgeprägt, durch die vorbestimmte Menge des Sandes aber scheinen doch alle Mächte gleichermaßen diesem Lauf der Dinge unterworfen. Die Stoppuhr unterstreicht die Macht eines göttlichen Herrschers, der jederzeit auf die Stoppuhr drücken und sagen kann: Das Rennen ist zu Ende.

Aussagekräftig nachgerade auf einer Metaebene der Kunsttheorie ist das Werk Arm Kräutchen zum gleichnamigen Gedicht von Joachim Ringelnatz. Ich zitiere: "Ein Sauerampfer auf dem Damm/ Stand zwischen Bahngeleisen,/ Machte vor jedem D-Zug stramm,/ Sah viele Menschen reisen// Und stand verstaubt und schluckte Qualm,/ Schwindsüchtig und verloren,/ Ein armes Kraut, ein schwacher Halm,/ Mit Augen, Herz und Ohren.// Sah Züge schwinden, Züge nahn./ Der arme Sauerampfer/ Sah Eisenbahn um Eisenbahn,/ Sah niemals einen Dampfer." Von Christian Morgenstern wissen wir, warum das Kräutchen nie einen Dampfer sah. In seinem Gedicht Das ästhetische Wiesel, das Wolfgang Nickel ebenfalls bearbeitet hat, lesen wir: "Ein Wiesel/ saß auf einem Kiesel/ inmitten Bachgeriesel./ Wißt ihr weshalb?/ Das Mondkalb/ verriet es mir/ im Stillen:/ Das raffinierte Tier/ tat's um des Reimes willen." Und wie das Wiesel nur um des Reimes Willen auf einem Kiesel im Geriesel sitzt, so sieht natürlich auch der Sauerampfer nur um des Reimes Willen niemals einen Dampfer. Schließlich sieht er noch vieles andere ebenfalls nicht. Was aber tut das Kunstwerk von Wolfgang Nickel? Es setzt das Gedicht nicht vor das Bild eines Bahndammes, auf dem das Kräutchen steht, macht auch keinen Menschen daraus, für den das Kräutchen ja offenbar steht ("mit Augen, Herz und Ohren"), sondern er setzt das Gedicht vor das Bild eines Dampfers. Die Kunst, heißt das, kann uns Teile dessen ersetzen, was unsere Lebensumstände uns vorenthalten mögen. Arm Kräutchen von Wolfgang Nickel liefert nicht nur mehr als eine kurzschlüssige Illustration des Ringelnatz-Gedichtes, läßt nicht nur bildkünstlerische und sprachliche Ebene einander durchdringen, sondern wirkt aus dem Werk heraus auf die Lebenserfahrung des Betrachters.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen noch eine schöne und anregende Ausstellungseröffnung und den Mitarbeiterinnen, die die Werke besser kennenlernen können, einen fruchtbaren Dialog mit den in mehrerlei Hinsicht poetischen Glasarbeiten von Wolfgang Nickel.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Dr. Cornelie Becker-Lamer



















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Während der Begrüßung

durch Frau Dr. Barthels

Während der Laudatio